Elena
Elena habe ich vor ein paar Jahren kennengelernt, damals war sie gerade 53 geworden. Sie lebt in einer Institution, hat viel Schlimmes erlebt in Kindheit, Jugend und danach sowieso. Gefühlt „ewig“ lebt sie in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Alles in allem arrangiert sie sich ganz gut mit den Umständen ihres Lebens. Sie hat ein paar enge Bezugspersonen, mit denen sie das Gespräch sucht. Sie hat ein paar Aufgaben, die ihr wichtig sind und die sie gewissenhaft erledigt. Mischt sich jemand ein, entsteht für sie ein Durcheinander, mit dem sie schwer umgehen kann. Dann reagiert sie ruppig und laut. Sie versucht, ihren kleinen Wirkungsraum zu schützen. Manchmal gelingt ihr das.
So eintönig der Alltag in der Einrichtung auch scheinen mag, so unvorhersehbar sind doch die Entscheidungen der Menschen in Elenas Umgebung. Jemand entwendet den Küchenwagen, den sie aufgeregt sucht, ein bestimmtes Messer fehlt, zwei Schüsseln gehören nicht hierher… Viel Energie bringt sie dann auf, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Selbstwirksam will sie diese Probleme lösen. Die verständnislosen Kommentare der Menschen um sie herum helfen ihr wenig, es kommt zu Streit, Ausgrenzung, Kontrollverlust.
Sie hat gelernt, dass es Unordnung zu vermeiden gilt. Deshalb hat sie gern alles unter Kontrolle. Elena kann gut beobachten und sie hat gelernt, wie hier mit Menschen umgegangen wird. Oft macht sie es ähnlich und sagt ihren MitbewohnerInnen, was sie zu tun oder zu lassen haben. Vielleicht versucht sie damit, ihrer eigenen Ohnmacht entgegenzuwirken. Dann heißt es, sie stelle sich auf Betreuerebene und könne sich nicht einordnen. Solche Momente werden als „auffälliges Verhalten“ dokumentiert und das Team überlegt, wie man dagegen vorgehen könnte.
Ich treffe Elena vor allem dann, wenn Musik gemacht wird, meist in der Gruppe. Oft verweigert sie die Teilnahme, beschimpft mich, entwertet den Gesang als „Gejaule“. Manchmal gelingt es mir, sie mit einer eigenen Idee hervorzulocken. Dann wirft sie mir Bruchteile eines Liedes entgegen, das nicht im Liederbuch steht. Von Glocken, die 24 Stunden läuten, Schwalben, die heimwärts ziehn und Pferdehalftern an der Wand singen wir dann. In diesen Momenten ist sie ganz da, manchmal lacht sie sogar. Es gibt Phasen, da setzt sie sich sogar auf das Cajon und begleitet die gemeinsamen Lieder rhythmisch. Gute Gefühle entstehen da, Gemeinsamkeit in der Gruppe, Stolz über den Auftritt beim Sommerfest, Freude über ein gelungenes Projekt…
Trotzdem eckt sie an, immerzu. Ich höre Kommentare, die weh tun. Die ihr ganz sicher weh tun. Die kommen mal von MitbewohnerInnen, mal von Angestellten der Einrichtung. Oft sind sie gar nicht direkt an sie gerichtet und berühren sie doch. Manchmal schneiden sie messerscharf. Ich kann mir nicht vorstellen, wie verletzt sie ist. Verstehe das „dicke Fell“ als einzig möglichen Schutz. Die häufige Abwehr meiner Angebote verstehe ich als einzigen Weg zur Verteidigung.
Elena wäre gern ein Mann. Noch so ein Thema zum Anecken. Sie will sich den Bart wachsen lassen, die Haare kurz, sie liebt ihre Stärke, Muskeln hätte sie gern. Die trainierten Männer unter den Betreuern himmelt sie an. Meist wird das mit Verliebtheit verwechselt, manchmal wirkt sie wie besessen von einem Betreuer. Die Ambivalenz ihrer Gefühle muss kaum auszuhalten sein. Das merkt man auch den betroffenen Betreuern an. Unbeholfen navigieren sie zwischen Eitelkeit und Irritation, zwischen Zuneigung und Ablehnung. Was das für Elena bedeutet, wird kaum gefragt. Die Suche dieses Menschen nach der eigenen Geschlechtsidentität wird kaum ernst genommen. Es ist leicht, es als Symptom der geistigen Behinderung abzutun und nicht weiter zu beachten. Dabei bleibt es.
Nach einer Weile treffe ich Elena wieder. Einiges ist inzwischen passiert. Ein schwerer epileptischer Anfall, Sturz, Knochenbruch und nun steht eine Demenzdiagnose im Raum. Elena ist oft verwirrt, räumlich und zeitlich desorientiert. Sie fragt ihre Betreuerin danach, wie alt sie ist: „Ich weiß, dass ich schon über 20 bin, denn ich bin ja schon volljährig.“ Oft steht sie im Gang und weiß nicht, wohin. Irritationen werden häufiger, weil sich Elena nun auch in den gewohnten Abläufen nicht mehr zurechtfindet. Fehlendes Verständnis in ihrer Umgebung verstärkt das Ohnmachtsgefühl und Elena zieht sich zurück. Letzte Woche durfte ich sie in ihrem Zimmer besuchen. Ich hatte Glück, denn sie hat mich nicht gleich an der Tür abgewiesen. Das Radio funktioniere nicht mehr, der CD-Player sei kaputt, im Zimmer ist es still. Ich darf mir die Sache anschauen, „reparieren“ und mit ihr gemeinsam herausfinden, dass das Gerät noch geht. Endlich erklingen wieder bekannte Melodien. Die wichtigsten Tasten am Radio sind markiert, ein Herz, eine Blume… alles Zeichen, die ihr noch vor kurzem Orientierung gaben. Natürlich kann sie das Radio anstellen, ihre CD abspielen. Natürlich. Meistens. Es sei denn, es ist kaputt. Das Gerät. Ihr Kopf. Plötzlich erzählt sie von Angst. Man wolle sie ins Krankenhaus stecken, abschieben. Jemand hat gesagt, sie hätte diese Krankheit. Depenz. Dependenz. Demenz. So irgendwie. Sie weiß genau, dass die sie hier weghaben wollen, sagt sie. Und ihre Bezugsbetreuerin sei auch gestorben und kommt nicht wieder. Ich versuche sie zu beruhigen, Angela sei nur im Krankenstand, sie wird bald wiederkommen. Alles Lügen, sagt sie. Sie weiß genau, dass sie nicht zurückkommt. Und ich weiß, dass es immer wieder Personaländerungen gibt, dass BetreuerInnen plötzlich gehen, neue kommen. Wem soll man da vertrauen? „Du machst dir große Sorgen um sie“, sage ich. „Ja“. Elenas Stimme klingt ruhiger. Wir spielen Schach. Schach, darauf kann sich Elena einlassen. Musiktherapie lehnt sie ab. Sie braucht keine Therapie und kein „Geklimper“. Aber als sie ihren Springer vorwärts setzt, singen wir das Lied vom Pferdehalfter an der Wand. Das ist erlaubt. Es fühlt sich gut an. Bekannt, vertraut, melancholisch. Der Verlust klingt mit und findet Raum. Fragt ihr mich, warum ich traurig bin, schau ich nur zum Pferdehalfter hin.